UNESCO

Beschneidung von Mädchen und Frauen

 Plenarprotokoll 13/211
Deutscher Bundestag
Stenographischer Bericht
211. Sitzung
Bonn, Freitag, den 12. Dezember 1997
Tagesordnungspunkt 19:

Vizepräsident Hans-Ulrich Klose: Das Wort hat die Kollegin Dr. Erika Schuchardt, CDU/CSU.

Dr. Erika Schuchardt (CDU/CSU): Herr Präsident! Sehr geehrte Kollegen und Kolleginnen! Das Thema, um das es heute geht und das ganz gewiß nicht von dem Gedanken an die Weihnachtszeit verdrängt werden darf, sondern - gerade weil es als letztes auf unserer Tagesordnung steht - ein besonderes Gewicht erhält, betrifft den intimsten Bereich des menschlichen Zusammenlebens in unserer Welt. Es ist erschütternd; denn es ist ein Thema, das brennt und schmerzt, und dies ein ganzes Leben lang. Es geht um die traditionelle sexuelle Folter an Neugeborenen, an Mädchen und an Frauen.

Wir, die wir hier sitzen, leben in einer Kultur, in der wir uns bemühen, Kindertränen zu vermeiden und Unglück und Schmerz von unseren Kindern fernzuhalten. Aber in anderen Kulturen und Ländern, mit denen wir auch in wirtschaftlicher Beziehung stehen, ist die grausame Beschneidung von kleinen Mädchen und von Frauen noch immer an der Tagesordnung. In 20 afrikanischen Staaten ist die Verletzung des weiblichen Körpers weit verbreitet: Ägypten, Sudan, Benin, Elfenbeinküste, Ghana, Kenia, Liberia, Mali, Mauretanien, Niger, Nigeria, Obervolta, Senegal, Sierra Leone, Somalia, Tansania, Togo, Tschad, Zentralafrikanische Republik und Äthiopien. Auch in Teilen von Asien und Brasilien und zunehmend - durch Einwanderer praktiziert - in Europa, finden diese verbrecherischen Eingriffe ständig statt, tagtäglich an über 4000 Betroffenen.

Um zu verstehen, nein, zu fühlen, worum es hier geht und warum wir eine christliche, eine Pflicht als Menschen haben, alles gegen diese Form von Folter zu tun, lassen wir eine Ägypterin zu Wort kommen, die weiß, wovon sie spricht.
Ich war damals sechs Jahre alt.
- So berichtet die Ägypterin Dr. Nawel el Saadawi. -

Eines Tages, ich lag in meinem warmen Bett, fühlte ich plötzlich eine große, rauhe Hand unter der Decke. Eine andere Hand hielt mir den Mund zu. Sie schleppten mich ins Bad. Ich weiß nicht, wie viele sie waren. Alles, woran ich mich erinnern kann, ist, daß sie mich festhielten, ich konnte mich nicht bewegen. Unter mir die nackten Kacheln. Ich hörte, wie sie ein Messer schliffen. Dann rissen sie meine Beine ganz weit auseinander, und eine scharfe Klinge schnitt etwas aus mir heraus. Ich schrie vor Schmerz, obwohl sie mir den Mund zuhielten. Denn dieser Schmerz war für mich nicht irgendein Schmerz, sondern eine glühende Flamme, die durch meinen ganzen Körper schoß. Nach wenigen Augenblicken bildete sich unter mir eine rote Blutlache.
Ich wußte nicht, was sie mir weggeschnitten hatten, wollte es auch nicht wissen. Ich weinte und rief nach meiner Mutter. Der größte Schock war, als ich sah, daß sie
- ihre eigene Mutter -
zwischen diesen Fremden stand. Meine Mutter redete mit ihnen und lächelte, als ob nichts passiert wäre.
Sie trugen mich zurück in mein Bett. Dann packten sie meine um zwei Jahre jüngere Schwester. Ich schrie, so laut ich konnte: Nein! Aber es half nichts - sie taten ihr das gleiche an wie mir ...

Die Frau, die diese bewegenden Worte an uns richtet, ist eine sehr mutige Frau. Sie gehört zu den wenigen Frauen Ägyptens, die über diese Tortur sprechen und die es trotz dieser Eingriffe, die für uns alle unvorstellbar sind, geschafft haben, eine Ausbildung durchzustehen; sie ist heute Ärztin.
Die grausamen Eingriffe, mit denen weltweit 130 Millionen Frauen leben müssen, zerstören nicht nur unmittelbar die empfindlichste Region des weiblichen Körpers. Der Angriff auf die zarte kindliche Seele ist ungeheuerlich. Das Gefühl, sich wehren zu können, wird total eliminiert. Auch die spätere körperliche Liebesfähigkeit wird für immer vernichtet.

Doch darüber hinaus gibt es einen Punkt, der alle Gesellschaften dieser Welt berührt. Denn auch in die Seelen dieser Frauen sowie ihre Kreativität und Schaffenskraft in der Familie, in der Gesellschaft werden bleibende Wunden geschlagen, die niemals verheilen. Mädchen und Frauen sind an Leib und Seele verletzt, oft ihr Leben lang. Sie sind verletzt als Personen, als Individuen, Dadurch entfällt weitgehend eine aktive, selbstbewußte Beteiligung an demokratischen, an wirtschaftlich stabilen Gesellschaften.

Meine Damen und Herren, sexuelle Übergriffe wie die rituelle Beschneidung vertiefen die Kluft zwischen den Geschlechtern. Von Chancengleichheit oder Gleichberechtigung, von Fürsorge und Nächstenliebe kann in solch einem Land nicht die Rede sein. In Ägypten beispielsweise kann nur jede vierte Frau lesen und schreiben. Sexuelle Beschneidung beschneidet auch die gesellschaftliche Möglichkeit von Frauen; denn die brutalen Übergriffe - viele Frauen werden in der Hochzeitsnacht mit dem Messer defloriert und anschließend wieder zugenäht - führen zu den schwersten körperlichen und seelischen Schäden. Ich erinnere an den aktuellen Artikel in der "Süddeutschen Zeitung" vom 10. Dezember.

Bei der furchtbarsten Form der Beschneidung, der Infibulation, der sogenannten pharaonischen Beschneidung, werden Klitoris und Schamlippen mit Glasscherben oder Rasierklingen weggeschnitten und anschließend mit Fäden oder Dornen zusammengeheftet. Jeder von Ihnen kann ohne medizinische Kenntnis nachvollziehen, was das für katastrophale körperliche Folgen hat: Menstrualblut wird gestaut und entzündet sich. Chronische Entzündungen der Harnwege, der Scheide und der Gebärmutter sind der Normalfall. Immer wieder geschieht es, daß ein Ehemann in der Hochzeitsnacht seine Frau wegen des vernarbten und vollkommen unelastischen Gewebes nicht einmal mit dem Messer öffnen - deutlicher gesagt: aufschneiden - kann.

Beachtlicherweise zeigt sich folgendes: Je höher das Niveau der Ausbildung der Frauen, desto weniger häufig wird diese Grausamkeit praktiziert. Die Beschneidung der Frauen ist in großen Städten auf Grund von Aufklärung sogar leicht rückläufig. Katastrophal dagegen sind die Verhältnisse auf dem Land. Das Voranschreiten des islamischen Fundamentalismus bewirkt, daß sich diese traditionelle Folter gerade in Ländern wie Ägypten ausbreitet, obwohl die Beschneidung von Mädchen und Frauen im islamischen Recht unbekannt ist und auch der Koran kein einziges Wort, keine Sure darüber verliert.

Es gilt vor allem, die NGOs, die Nicht-Regierungsorganisationen, in ihrer Aufklärungsarbeit zu unterstützen. Bei vielen Frauen herrscht auch eine erschreckende biologische Unkenntnis vor. Gesellschaften, die ihre Frauen beschneiden, haben Angst vor der weiblichen Sexualität, insbesondere vor den weiblichen Sexualorganen. Man glaubt dort, daß sie unsauber seien.

Allerdings ist den Frauen dieser Länder der direkte Zusammenhang zwischen ihren ständigen Erkrankungen und der Beschneidung oft gar nicht klar. Wird in Aufklärungskampagnen in ländlichen Gebieten durch Schautafeln der verheerende Zusammenhang deutlich, fängt ganz langsam ein Umdenken an.
Hanny Lightfoot-Klein hat sich als internationale Expertin zum Thema Frauenbeschneidung etabliert. Sie beschreibt in ihrem Buch mit dem Titel "Das grausame Ritual", wie sie eine Nacht in einem sogenannten Flitterwochenhotel verbracht hat. Aus allen Zimmern hörte sie die durchdringenden Schmerzensschreie. Und nicht ohne Grund lag unmittelbar neben dem Hotel ein Krankenhaus.

Wie sich die Kindsgeburt bei einer sexuell verstümmelten Frau abspielt, meine Damen und Herren, können Sie sich lebhaft ausmalen. Mutter und Kind sind jedesmal in höchster Lebensgefahr, jedesmal.muß neu geschnitten werden. Die meisten sterbenden Mütter sind Opfer traditioneller Rituale.

Die körperliche Liebe mit einer beschnittenen Frau ist, außer für Sadisten, kein Vergnügen. Durch Informationskampagnen auch bei den Männern dürfte es gelingen, die unsinnige, von keiner Religion vorgeschriebene Verstümmelung von Menschen zurückzudrängen.

Gesunde, stabile Demokratien brauchen gesunde, stabile Frauen. Wenn wir, die Bundesrepublik Deutschland, erfolgreiche Außenwirtschaft betreiben wollen, dann tun wir dies mit demokratischen und wirtschaftlich stabilen Partnern. Es zeigt sich, daß in stabilen Demokratien die Rechte von Frauen und Kindern einen hohen Stellenwert haben. Nur Frauen, die vor schwerwiegenden sexuellen Traumatisierungen sicher sind, entwickeln ein gutes Selbstwertgefühl. Sie nehmen eine gute Ausbildung für sich in Anspruch und behaupten sich in Wirtschaft und Politik.

Demokratische Strukturen sind die Voraussetzung schlechthin für langfristige Stabilität. Körperliche Verstümmelungen von kleinsten Mädchen, Kindern und Frauen stehen zum demokratischen Gedanken und zu unserem christlichen Glauben in absolutem Widerspruch.

Nun aber stellt sich die zentrale Frage: Haben wir ein Recht auf Einmischung, dürfen wir auf dem Weg von Entwicklungshilfe und politischem Druck das Recht der Frauen, über ihren Körper selbst zu bestimmen, unterstützen, oder üben wir damit eine neue Form von Kolonialismus aus? Die Antwort ist ein enschiedenes Nein. Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion lehnt die Vorstellung von Anthropologen ab, die Initiative zur Vermeidung von Verstümmelung müsse von den Opfern selbst kommen. Wir sind der Überzeugung, daß nur intensive Aufklärung vor Ort und bei uns durch Massenmedien - ich erinnere an die Arbeit von NGOs, UNO und UNICEF - dazu beitragen können, diese grausame Politik einzudämmen und schließlich abzuschaffen. Ich erinnere an eine Plakataktion "Ein herrliches Fest - täglich 6000 betroffene Kinder".

Die grausamen Beschneidungsrituale finden übrigens möglicherweise - ich erinnere noch einmal an den aktuellen Bericht der "Süddeutschen Zeitung" vom 10. Dezember 1997 - nicht nur im fernen Ausland statt. Durch Zuwanderer aus afrikanischen Ländern und in Deutschland ansässige moslemische Familien ist die Welle der Verstümmelung wahrscheinlich auch schon längst zu uns nach Deutschland vorgedrungen, obgleich die Ärzteorganisationen dies trotz mehrfacher Umfragen der Bundesregierung noch nicht bestätigen können. Ärzte, Seelsorger und Jugendämter stehen darum diesem tabuisierten Phänomen hilflos gegenüber. Hier besteht dringender, wohl noch wenig erkannter Handlungsbedarf in Form von wissenschaftlicher Aufklärung und Abklärung.

Auch in Deutschland sehen wir die dringende Notwendigkeit, diese schwerwiegenden Übergriffe gegen Mädchen, die nach deutschem Recht selbstverständlich schwerwiegende Körperverletzungen darstellen, als ernsthafte Straftatbestände bewußt zu machen. Daß langsam ein solches Bewußtsein entsteht, nämlich daß traditionelle Strukturen niemals so weit gehen dürfen, Kinder und Frauen zu foltern, wird unter anderem daran deutlich, daß in den USA und Kanada sexuelle Verstümmelung als Asylgrund anerkannt worden ist. Auch in Deutschland erhalten Frauen Asyl, wenn sie politisch, das heißt staatlich verfolgt werden. Schon heute stellen Menschenrechtsverletzungen ein Abschiebehindernis dar, wenn die betroffene Person individuell und ganz konkret bedroht ist. Gerade nach dem furchtbaren Anschlag in Luxor können wir erkennen, wie gefährdet die ägyptische Gesellschaft durch Extremisten ist. Um so mehr müssen gerade wir Christen von unserer Pflicht auf Einmischung Gebrauch machen; denn in Ägypten zum Beispiel wurde das vom Gesundheitsministerium erlassene Beschneidungsverbot im Sommer dieses Jahres durch das Verwaltungsgericht in Kairo wieder aufgehoben.

Wir sehen es als Teil unserer ethischen Verantwortung an, Gelder des Außenhandels und der Entwicklungshilfe an christliche Prinzipien, an das Menschenrecht, an die Unterstützung weiblicher Selbstbestimmung und Forderungen nach Demokratie zu koppeln.
Danke.

(Beifall bei der CDU/CSU und der SPD)


AV 2. Audio-/Video-/Reportage - Erika Schuchardt:

 


Reden im Plenum des Deutschen Bundestages.

Prof. Dr. Schuchardt, MdB, seit 1996.

  • Kosovo-Flüchtlingslager
  • Frauenbeschneidung
  • Organ-Transplantations-Gesetz
  • “Recht und Ethik der mod. Medizin”
  • Tschernobyl - 10 Jahre danach


youtube-logoBT-Rede Tschernobyl 10 J danach, MdB E. Schuchardt Rede im Bundestag, Phoenix 1996 '7
youtube-logoBT-Rede Organ-Transplant.-Gesetz ,MdB E. Schuchardt Rede im Bundestag, Phoenix 1997 '4
youtube-logoBT-Rede MdB Schuchardt Frauenbeschneidung, Phoenix 1998 '6
youtube-logoBT-Rede Kosovo Flüchtlinge Krisen Management kollektiv exempl im Dt Bundestag '2

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Kosovo-Flüchtlingslager
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exempl. im Dt. Bundestag (7.5) 2 min.

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Organ-Transplantations-Gesetz
Krisen-Management kollektiv
exempl. im Dt. Bundestag (7.2) 3 min.

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“Recht und Ethik der mod. Medizin”
Krisen-Management kollektiv
exempl. im Dt. Bundestag (7.4) 3 min.

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Tschernobyl - 10 Jahre danach
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exempl. im Dt. Bundestag (7.1) 12 min.

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