Rezensionen - Krisen-Management und Integration

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Prof. Dr. Wilhelm Mader, Lehrstuhl Erwachsenenbildung und Psychotherapie, Universität Bremen

In: Zeitschrift für Pädagogik und Stellungnahme, 1979

… 'Glück' - ... wissenschaftsorientiert … -
…Beide: Begleitender Pädagoge und seine Krise durchleidender und durcharbeitender - u.a. von Behinderung betroffener - Mensch sind Lernende …
So geht es … auch und deutlich um die soziale Integration der Nicht-Behinderten in die Welt der Behinderten …
Auch scheut die Verfasserin das Wort ,Glück’ nicht, wenn sie von den Erfahrungen und Lebensperspektiven von Behinderung betroffener Menschen schreibt. ...
Der Leser wird sich – und das gehört zu diesem Buch – in ihm aufsteigenden, erschütternden Gefühlen beim Lesen dieses 2. Teils nicht entziehen können und wollen. -
… Ein wissenschaftsorientiertes Buch …, das Achtung erzeugt und den Leser sehr nachdenklich zurücklässt ...

Rezension: 'Glück' - wissenschaftsorientiert - lässt den Leser sehr nachdenklich zurück

Auch Bücher im Wissenschaftsbereich sind - wenn sie denn nicht nur Veröffentlichungslisten verlängern wollen - mehr als Mitteilung von Forschungsergebnissen und theoretischer Reflexion. Sie sind Niederschlag oft sehr persönlicher Erfahrungen und Dokumente gewachsener Einstellungen, an denen zu reiben dem Leser ebenso aufgegeben ist, wie die kritische Rezeption der Forschungsarbeiten.

Von solchen Erfahrungen und Einstellungen der Verfasserin, die spürbar und doch wenig direkt den Inhalt des einen Buches in zwei Bänden zu dem nach wie vor brennenden gesellschaftlichen Problem der sozialen Integration von behinderten und nichtbehinderten Menschen tragen, sei daher in dieser Rezension zunächst die Rede.

Irgendwo, verschachtelt in theoretische Explikation und Literaturverweise findet der Leser auf S. 86 und 87, einen Anhaltspunkt, in einer CPT-Ausbildung (CPT = Clinical Pastoral Training/Education) auf der Unfallstation der Medizinischen Hochschule in Hannover, einem "Krisenumschlag-Zentrum“, macht die Verfasserin Erfahrungen von Krisenentstehung und Krisenverarbeitung bei "unmittelbar Betroffenen: den Patienten in ihrer Krise (frisch Amputierten, Querschnitt-Gelähmten, anders Behinderten, Suicidalen und Sterbenden) ebenso wie bei den mittelbar Betroffenen: den Bezugspersonen in ihrer Krise (den Eltern eines plötzlich behinderten Kindes, den Partnern unerwartet behindert gewordener Männer und Frauen, den Zurückbleibenden der Sterbenden) und nicht zuletzt bei dem Prozeßbegleiter: bei der Verfasserin selbst in ihrer Krise (in ihrer Rollenkomplexität als mit-leidend Betroffene, als pädagogisch-seelsorgerisch Begleitende, als suchende Lernende)" (S. 87).

Diese Krisenerfahrungen regten eine intensive und vieljährige Arbeit der Verfasserin für und mit behinderten Menschen vor allem im Erwachsenenbildungsbereich .(.z.B. VHS Hannover) an, die schließlich ihre theoretische Fassung in einer spezifischen und in diesem Buch niedergelegten Auffassung von "Weiterbildung als Krisenverarbeitung" fand.

Ähnlich versteckt wie diese Initialerfahrung der Verfasserin findet der Leser verstreut Hinweise auf die in diesen Erfahrungen und Arbeiten gewachsenen Einstellungen und Wertorientierungen: auf die heimliche Anthropologie der beiden Bände.

Für diese heimliche Anthropologie gibt es mehrere "Kennworte". Eines davon ist das Wort "begleiten“. Der Pädagoge wird wenig oder gar nicht als Vermittler von Wissen und Erfahrung, sondern als Begleiter/Prozeßbegleiter von Erfahrungen gesehen, die der andere, den er begleitet, aus eigener Kraft und in eigener existentieller Betroffenheit macht, zu deren Entfaltung er aber einen Begleiter braucht. Beide: begleitender Pädagoge und seine Krise durchleidender und durcharbeitender von Behinderung betroffener Mensch sind Lernende. So geht es nicht nur um die soziale Integration der Behinderten in die Welt der Nichtbehinderten; es geht auch und deutlich um die soziale Integration der Nichtbehinderten in die Welt der Behinderten mit dem Effekt, daß die Klarheit der Unterscheidung von Behinderten und Nichtbehinderten sich als die Klarheit der persönlichen und institutionellen Schutzmauern erweist, die beide um sich gebaut haben.

Auch scheut die Verfasserin das Wort "Glück" nicht, wenn sie von den Erfahrungen und Lebensperspektiven von Behinderung betroffener Menschen schreibt, und doch schreibt sie kein Buch über Behinderte, sondern von den Umgehensweisen in einer Gesellschaft, die bestimmte Probleme löst, indem sie zwischen Behinderten und Nichtbehinderten unterscheidet - von den Institutionen bis in die Herzen der Menschen.

Entsprechend zieht die Verfasserin einen interaktionellen theoretischen Erklärungsansatz - vor allem aus dem Umfeld des symbolischen Interaktionismus - für ihr Konzept heran. Und konsequent für die angestrebte dialogische Struktur lautet die Kernthese des Buches (z.B. S.17): "Der Behinderte braucht die Gesellschaft und die Gesellschaft braucht den Behinderten". So ist der Adressat des Buches weniger der, der das Problem der Behinderung weginstitutionalisiert und zuständigen Stellen überantwortet. Der Adressat ist auch weniger der, der aus karitativer Pflicht und sozialem Engagement Menschen in Not helfen will. Der Adressat ist eher derjenige, der eine Ahnung bekommen hat oder bekommen will, daß sein Leben die Behinderungen anderer "braucht“, um die "Grenzen von Tod, Verdummung und Desensibilisierung" zu überschreiten (S. 3). Die Verfasserin versteht ihr Anliegen keineswegs eingegrenzt auf einen engen pädagogischen Bereich im Sinne einer "Behindertenpädagogik". Es steht das Problem aller "Normalabweichler"' (S. 19) zur Debatte, weil im gesellschaftlichen Verhältnis zu ihnen "Prozeß und Grad der Infragestellung und Neudefinition der Gesellschaft zu konstitutiven Elementen für Leben anstelle von Überleben" werden.

Von den drei Teilen des Buches in zwei Bänden ist sicherlich der zweite Teil der unmittelbar einer breiten Leserschaft zu- und eingänglichste. Die Verfasserin legt hier die Analyse von insgesamt 60 Literatur gewordenen Biographien von unmittelbar und mittelbar durch Behinderungen betroffenen Menschen aus den Jahren 1900 bis 1979 vor. Es sind "berühmte Namen und in der ganzen Welt gelesene Biographien darunter wie die der Nobelpreisträgerin Pearl S. Buck, die unter dem Titel "Geliebtes unglückliches Kind" das Leben ihres einzigen hirngeschädigten Kindes beschreibt oder die Geschichte einer Therapie unter dem Titel "Ich habe Dir keinen Rosengarten versprochen", die Deborah Blau unter dem Pseudonym Hannah Green über ihren Weg mit ihrer Therapeutin Dr. Fried (gemeint ist Frau Dr. Friedmann, die erste Frau Erich Fromms) schrieb. Es sind weniger bekannte und doch nicht weniger eindrucksvolle Biographien darunter. Der Leser wird sich - und das gehört zu diesem Buch - in ihm aufsteigenden erschütternden Gefühlen beim Lesen dieses 2. Teils nicht entziehen können und wollen.

Die Verfasserin möchte jedoch mehr als eindrucksvolle Literatur vermitteln. Sie sucht nach Belegen für einen sich immer wieder und regelhaft wiederholenden Prozeß des Umgangs von Menschen mit Krisen. Sie glaubt die Regelhaftigkeit dieses Prozesses der Krisenverarbeitung in acht Spiralphasen ordnen und beschreiben zu können. Nicht jede Biographie durchläuft alle acht Phasen. Manche bleiben stecken. Doch alle erscheinen möglich. Jede ist das Ziel der Vorangehenden. Im Eingangsstadium erfährt der lernend Betroffene primär kognitiv fremdgesteuert Ungewissheit ("Was ist eigentlich los?“) als erste Phase, dann Gewißheit ("Ja, aber das kann doch nicht sein…?") als zweite Phase. In einem Durchgangstadium durchleidet er primär emotional und ungesteuert Aggression ("Warum gerade ich...?") als dritte Phase, Verhandlung („Wenn … dann muß doch … ?“) als vierte Phase und Depression („Wozu …, alles ist sinnlos…?“) als fünfte Phase. Im Zielstadium primär selbstgesteuerten Lernens können und sollen nach Auffassung der Verfasserin über die Annahme („Ich erkenne erst jetzt …!“) als sechster Phase und Aktivität („Ich tue das…!“) als siebter Phase schließlich Solidarität („Wir handeln ….!“) als achte und letzte Phase erreicht werden.

Die Verfasserin zeigt an Hand der Biographien, wie Menschen in ganz unterschiedlichen intellektuellen und psychosozialen Bedingungen diese Phasen durchlaufen, was es hinderte, eine nächste Stufe der Spiralphasen zu erreichen und was es förderte.

Aus dieser Analyse gewinnt sie dann Material zur Stützung ihrer im engeren Sinn pädagogischen Überlegungen, mit welchen psychosozialen Erfahrungen bei Behinderungen zu rechnen ist und wie mit ihnen umgegangen werden könnte.

Sicher in richtiger Einschätzung schlägt die Verfasserin vor, ähnlich wie in dieser Rezension das Lesen mit den im 2. Teil des Buches niedergelegten Biographieanalysen zu beginnen, um beim „eiligen Lesen … persönliche Betroffenheit zu erfahren und sich erst zu einem späteren Zeitpunkt mit der Theorie auseinanderzusetzen“ (S. 3).

Dem Rezensenten scheint jedoch, dass das weniger leicht verdauliche Brot des 1. und 3. Teils nicht so bereitwillig der Leselaune (wie es in der zitierten Anmerkung geschieht) geopfert werden sollte. Hier – im 1. und 3. Teil – finden sich Analysen der widersprüchlichen bildungspolitischen Bedingungen in der Bundesrepublik. Hier findet man ein genaueres Verständnis der Verfasserin von Integration etwa im Unterschied zur Assimilation. Hier findet man auch genauere Auskunft, welche Theorien die Verfasserin benutzt, um ihr Konzept aufzubauen und. - wichtiger, da die Verfasserin sehr unterschiedliche Theoreme und Forschungstraditionen zu vereinen in der Lage ist - gegen welche sie ihr Konzept abgrenzt. Als Beispiel: Den Teilnehmer einer Weiterbildung als "curriculare Instanz ernstzunehmen ... bedeutet zugleich eine Zurückweisung möglicher anderer Ansätze, die von Kultur und Wissenschaft oder von den Anforderungen der Gesellschaft ihren Ausgang nehmen". Dies heißt für die Verfasserin auch, daß "in der Weiterbildung angesichts didaktischer Selbstwahl des sich Weiterbildenden eben nicht primär antizipatorisches Lernen auf mögliche Verwertungssituationen ungewisser Zukunft hin" zu leisten ist (S. 55).

Wenn auch diese theorieorientierten Teile ihre Herkunft aus einer Doktorarbeit durchaus nicht verleugnen können (das Übermaß an Literaturverweisen führt nahezu notwendig zu oft verkürzten Hinweisen und Auseinandersetzungen, von denen manchmal schwer zu entscheiden ist, ob sie nur Hinweis- oder doch Rezeptionscharakter haben, dies aber wichtig ist, um die Frage einer angemessenen oder unangemessenen Rezeption eines Autors beantworten zu können), so sollte dieser Teil doch keineswegs überlesen oder ausgelassen werden.

Allerdings steht er wie alle sozialwissenschaftlichen Theorien, die sich mit Fragen des "All-tagswissens", des „Alltagsbewußtsens", der "Deutungsmuster" etc. beschäftigen in einem Dilemma, das zu erkennen wichtig erscheint. Diese Theorien, die dem Aufbau der Alltagsstruktur des Wissens und Bedeutungen von Menschen auf die Spur zu kommen trachten, kann man nicht getrost schwarz auf weiß nach Hause tragen im Bewußtsein: "So ist es...". Es sind Theorien - und das unterscheidet sie im Kern von jeder positivistischen Theorie welcher Couleur auch immer -, die auf Regeln des Verhaltens, nicht aber auf das unmittelbare Verhalten selbst verweisen. Wer sie also kapiert und akzeptiert, weiß gerade nicht, wie sich konkrete Menschen in konkreten Situationen verhalten. Er bekommt jedoch eine Einstellung zum möglichen Umgang mit sich selbst und anderen vermittelt. Dies macht wohl auch in der Darlegung den sich zunehmend komplizierenden Charakter solcher Theorien aus.

In einem, allerdings wichtigen, Punkt wäre aus vielerlei, hier leider nicht auszuführenden Gründen eine präzisierende Unterscheidung und Kritik notwendig. Es geht um die 5. Spiralphase: Depression. Leider spricht der alltägliche Wortgebrauch für die Verwendung der Verfasserin, mit diesem Wort das zu bezeichnen, was nach der Aggression an Hoffnungslosigkeit und Ausweglosigkeit in einer Krise erlebt wird. Doch gerade angesichts der Tatsache, daß in der Bundesrepublik die Bezeichnung ‚Depression' aus guten Gründen als so schwerwiegende psychische Behinderung verstanden wird, daß ihre Behandlung eine kassenpflichtige Leistung ist, wäre es aus der Sicht des Rezensenten notwendig, zwischen einer Depression zu unterscheiden, die den Einstieg in eine Krisenverarbeitung überhaupt verhindert und deren Symptome etwa der 1. und 2. Spiralphase zuzuordnen sind (dies ist im engeren und klassisch psychoanalytischen Sinn eine psychoneurotische Depression), und einem Erleben yon Ausweglosigkeit nach der Aggression als neuem Realitätsbezug, wie es die Verfasserin will. Die Verfasserin macht eine Reihe Hinweise, daß ihr der Unterschied von "Trauerarbeit“ einerseits und Depressionsformen andererseits nicht fremd ist.

Sie setzt aber schließlich doch das Wort Depression für eine nachaggressive Phase ein, wo – im Sinne der Spiralphasen - gerade nicht mehr von einer wirklichen Depression gesprochen werden kann. Gerade die Einordnung nach der Aggression widerspricht einigen nicht gerade schlechten Forschungen und Theorien zur Depression. Sie widerspricht auch der Erfahrung des Rezensenten in vieljähriger Arbeit, mit psychisch depressiven Menschen, in der der entscheidendste Ausbruch aus der Depression zur Trauerarbeit - genau wie die Verfasserin es sieht - durch Aggressivität geschah und eine wirkliche Depression verhinderte. Der Gegensatz von Trauerarbeit und Depression ist keine Wortklauberei, sondern eine Grundfrage des Prozesses einer Krisenverarbeitung, da sie ein grundlegend anderes Realitätsverhältnis der Betroffenen beinhaltet.

Doch diese, vielleicht weiterführende Kritik ändert nichts daran, ein wissenschaftsorientiertes Buch in der Hand zu halten, das Achtung erzeugt, und den Leser sehr nachdenklich zurückläßt.