Rezensionen - Krisen-Management und Integration

zfp

Prof. Dr. Jürgen Henningsen, Lehrstuhl Erziehungswissenschaften, Universität Essen

In: Zeitschrift für Pädagogik, 1980

… ’Nu es dich trifft, erschrickstu!’-
Dies opus grande ist aber weit mehr als ein Handbuch … Es ist eine ganz konkrete, hart an den Phänomenen entlang argumentierende pädagogische Theorie menschlichen Lebens …
Früher nannte man, worum es ging, schlicht ,Glück' ... Die säkularisierte Antwort seit Rousseau dann ,Pädagogik'.
Erika Schuchardt ... lässt den Leser denken. ...
Diese 8 Spiralphasen – das ist… ein grandioses Instrument zur Deutung ... .
Damit kann ich alle Arten von Prügeln, die ich wegstecken muss, auf Begriffe auffädeln. ...

Rezension: Opus grande - weit mehr als ein Handbuch

1. Themen des Buches

Erika Schuchardt, 42, Privatdozentin in Hannover, legt ein Paket vor von über vierhundert Seiten.)1 Der Umfang ist eine Hürde, der Titel wohl auch und das Thema erst recht: Behinderte, schon wieder Behinderte, laßt uns doch endlich in Ruhe mit euren Behinderten - ist ja schlimm genug, aber man muß doch nicht dauernd ...

Dies Opus grande ist aber weit mehr als ein Handbuch für Rollstuhlfahrer oder ein Wort zum Sonntag. Es ist eine ganz konkrete, hart an den Phänomenen entlang argumentierende pädagogische Theorie menschlichen Lebens, meines und deines und unseres Lebens. Ständig stößt mir etwas zu, tut mir weh, wirft mich um - aber lernend wird ein Gleichgewicht wieder hergestellt. Mal helfen mir Freunde, mal früher Gelerntes. Schwierig ist es immer. Man kann diesen Lernprozeß einen (Wieder)gewinn von "Identität" nennen oder von "Homöostase" oder von "sozialer Integration" oder von sonstwas. Früher nannte man, worum es ging, schlicht "Glück" und dachte darüber nach, wie es innerhalb von lauter Unglück herstellbar sei. Wenn überhaupt, so hieß die säkularisierte Antwort seit Rousseau, dann durch „Pädagogik“.

Erika Schuchardt hält sich eng an den Phänomenen und läßt den Leser denken. Endlich einmal ein Buch, das nicht als Ersatz für einen Inhalt nur seine eigene Metatheorie enthält. Aber dieses Reden von Wirklichkeit erfordert natürlich, daß der Leser sich auf die Phänomene auch einlassen muß. Deshalb sei hier einleitend wenigstens kurz umrissen, wovon die Rede ist. Im Anschluß daran möchte ich an das Buch drei Fragen stellen und etwas ausführlicher erörtern. Vielleicht können sie mithelfen, Erika Schuchardts Thematik konkret zu lassen und trotzdem allgemeiner zu machen. Lobende Rezensionen gibt es inzwischen genug )2, das ist hier nicht das Problem.

Das Buch beschreibt Lernprozesse; besonders im Blick sind dabei Krisen und die Strategien ihrer Verarbeitung. Zwei Bereiche, einander wechselseitig lesbar machend, liefern das konkrete Material: zum einen eine über vierjährige Arbeit Erika Schuchardts als Abteilungsleiterin an der Volkshochschule Hannover (mit Veranstaltungen für Behinderte und Nichtbehinderte), zum anderen ein Haufen von über sechzig Autobiographien von Behinderten (oder engen Angehörigen von Behinderten).

Neben diesen beiden Hauptinhalten, die dem Buch Gewicht geben, steht eine Menge anderes. Da geht es um Techniken für Gesprächsleiter und Weiterbildungslehrende, vornehm meist "Interventionsmöglichkeiten" genannt. Natürlich wird die Literatur für "Weiterbildung" erfaßt und vorgeführt. Auch die bildungspolitischen Klimaschwankungen der Bundesrepublik sind im Hinblick auf Integrations- und Separationstendenzen skizziert worden)3 . Und außerdem wird, wie sich das für ein deutsches Buch (leider) gehört, (fast zu) viel referiert über "symbolischen Interaktionismus", "Kommunikationstheorie" und "handlungstheoretische Didaktik".

2. Autobiographien: Interpretation von Interpretation

Die Interpretation von autobiographischen Äußerungen hat sich in den letzten Jahren innerhalb der Sozialwissenschaften zunehmend durchgesetzt: Zwar war immer bekannt, daß dies eine Empirie mit spezifischen Schwierigkeiten darstellte; aber je mehr die selbstgemachte Empirie von Test-Experiment-Befragung anfängliche Hoffnungen aufzugeben zwang, desto eher war man wieder bereit, Interpretiertes zu interpretieren. Autobiographisches ist Wirklichkeit und nicht beliebig; wie man Aussagen darüber kontrollierbar machen kann, ist eine ganz andere Frage.

Schon die hier zusammengebrachte Liste von thematisch einschlägigen Büchern stellt eine bemerkenswerte wissenschaftliche Leistung dar. Bei uns kann man zwar die Adressenlisten aller Zahnärzte oder aller Fahrradläden kaufen, aber die Listen der Autobiographien aller Schulmeister oder aller Opernsänger müßte man selbst mühsam erstellen. (Auf vier solcher arbeitsintensiven Vorarbeiten für autobiographische Forschungen sei hier wenigstens hingewiesen: Matthews 1955, Winter 1955, Caplan 1961, Bollenbeck 1976).)4

Erika Schuchardt erfaßt hier etwa 60 Titel; in ihrer folgenden Veröffentlichung)5 sind es bereits etwa 150 Titel. Die Bearbeitung dieses Materials erweist sich als ungemein schwierig. Klassifizieren, ja, das geht, das kann man mit allen Daten und mit Kartoffeln ja auch. Aber beim Interpretieren sperrt sich das Material gegen Generalisierungen, und Erika Schuchardt macht das vernünftigste, was in solcher Situation bleibt: sie läßt sich auf Einzelbeispiele ein. Dabei ergibt sich häufiger, daß subjektive Erfahrungsverarbeitung wenig oder nichts zu tun hat mit der Art der Behinderung (93; 250; 252; 439). Womit sie, die Erfahrungsverarbeitung oder Krisenbewältigung, in Wahrheit zu tun hat, das wird hier vorsichtig offengelassen. Der Rezensent würde auf diesem Regiestuhl gern unsere Kultur sehen und Michel Foucaults These)6 dahin umtexten, daß Krankheiten historische und mithin kulturspezifische Gegenbilder von Normalitäten spiegeln.

3. Das Denkmodell: acht Spiralphasen

Erika Schuchardt arbeitet stattdessen mit einem überhistorischen Instrument, dessen Zusammenhang mit unserer kulturellen Selbstauslegung nur vage (vgl. 130) thematisiert wird. Gerade dieses Instrument zeigt aber eine hohe aufschließende Anschmiegsamkeit an konkrete Details. "Krisenverarbeitung als Lernprozeß in acht Spiralphasen" heißt dies Instrument; es ist eine Art Deutungsrahmen, der individuelle Deutungsmuster und individuelle biographische Wirklichkeit auf den Begriff bringen kann - auf acht Begriffe, wenn man so will.

In diesem Denkmodell steckt vermutlich weit mehr Dynamit, als man nach seiner aufschließenden Leistung hier vermuten könnte. Ich skizziere kurz diese acht "Spiralphasen". Wen Behinderung trifft, heißt das, der zeigt in seinem Lernprozeß vor allem acht Reaktionen oder Verhaltensweisen, die zwar nacheinander sich ereignen können, aber auch ineinander weiter arbeiten: Momente, die "aufgehoben" werden können bzw. müssen. Die ersten sechs haben eine erhöhte empirische Plausibilität, ich beginne mit ihnen.

Ungewißheit und Gewißheit: damit geht es los, das wird mir von außen betrachtet beigebracht. Danach kapiere ich es selbst, ich bin nicht "normal" oder mein Kind ist es nicht, und das tut weh und entlädt sich in Spiralphase drei: Aggression.
Danach folgt die vierte Etappe, ich hätte sie Flucht genannt, Erika Schuchardt nennt sie "Verhandlung": Ärzte werden aufgesucht, man wird wundergläubig, mancher pilgert nach Lourdes. Danach dann die "Depression": alles ist grau und sinnlos. Dann die "Annahme": Such is Life.

Mit diesen sechs Begriffen kommt man im Alltag weit. Man kann sogar probehalber statt "Behinderung" auch anderes einsetzen, und Krisen lassen sich lesen: "Arbeitslosigkeit" könnte da stehen oder "Gastarbeiter" oder "Straffälliger, der jetzt eine neue Stellung sucht". Sogar Einzelvorkommnisse, auch solche mit weißem Kragen, lassen sich gut nach diesem Raster durchsichtig machen: Ich kriege mein eingesandtes Manuskript zurück: ich halte es für einen Irrtum, das hat bloß der falsche Lektor in den Fingern gehabt. Ich kapiere endlich: die da meinen es wirklich so. Wer wundergläubig ist, mobilisiert nun seine "Beziehungen", andere werden schon vorher aggressiv - weil, so schließt man messerscharf, nicht sein kann, was nicht sein darf (nach Morgenstern). Irgendwann akzeptiert man, was nicht zu ändern ist. Laut Erika Schuchardt wirkt nach der "Annahme", die hier säuberlich der "Depression" folgt (darüber könnte man im und am Einzelfall vermutlich diskutieren), noch ein Ziel. Alles andere, die sechs Stufen unserer kulturüblichen Frustrationsverarbeitung, das war nur Eingang und Durchgang. Sage ich nun, dieses Ziel werde mit schönen Vokabeln beschrieben, wird mir sicher Verbitterung attestiert. Nun denn: diese zwei Stadien, in die zu gelangen nicht unmöglich sein soll, heißen "Aktivität" und "Solidarität".
Das liest sich, finde ich, fast wie die Visitenkarte moderner europäischer Großorganisationen mit dem Flair für Historisches; in anderen Weltgegenden und in anderen Zeitaltern hätte hier statt "Aktivitat"/"Solidarität" wohl auch anderes stehen können: Bescheidenheit oder Gelassenheit oder Resignation oder Selbstaufgabe oder Nirwana oder sonstwas. Was ich sagen will:
was hier "Ziel" heißt, ist ein Kulturideal, das ist historisch und "folgt" nicht aus vorangehenden Phasen oder Ereignissen, sondern ist selbst Deutung, Auslegung, Sinn, das ist eben unsere Kultur.

Die hohe Plausibilität des Denkmodells beruht auf den ersten Phasen, die jeder an sich erfahren kann und erfahren hat (der Schreiber auch): mich trifft etwas unvermutet, ich hadere mit dem "Schicksal" und finde schließlich nach "Krieg" und "Niederlagen" zu einer Weise des Weiterexistierens. "Der Kranke muß sich an seine Krankheit gewöhnen", sagte mir einmal, weiß-bemantelt, Günter Brune/Münster: eine Einsicht, die zwar schwer zu schlucken, aber für mich weit wirkungsmächtiger war als Pillen.

Erika Schuchardt kämpft gelegentlich mit der Versuchung, frühe Phasen gesetzesartig miteinander zu verknüpfen. Besonders die "Aggression" scheint der Apologie zu bedürfen, ohne sie sei Katharsis, mithin dann auch "Annahme" und soziale Integration nicht möglich: fehlende Aggression "tendiert zur Nichtannahme" (297ff.), "tendiert zur Depression" (302ff.) oder "zur sozialen Isolation" (304f.; 306!). Der Begleiter (Bezugsperson, Arzt etc.) müsse die Aggression im Interesse des Betroffenen auslösen (vgl. 235; 317; 324). Dem ist schwer zu widersprechen, aber auch schwer zuzustimmen. Sicher gibt es andere Denkmodelle, das plausibel zu machen - schließlich ist "Aggression" ja eine gesteigerte Form von Aktivität oder Widerstand. In der "Aggression" (wie hier) eine Phase zu sehen, ist sicher möglich, aber nicht zwingend. Es könnte genauso gut ein sich ab und an wiederholendes Moment sein - was Erika Schuchardt auffängt mit ihrer Rede von "Spiral"phasen: was einmal überwunden war, kann auf höherer Stufe wiederkommen - ich kann also mehr als einmal aggressiv oder depressiv werden.

Diese acht Spiralphasen: das ist nun natürlich ein grandioses Instrument zur Deutung nicht nur von Behinderungsverarbeitung. Damit kann ich alle Arten von Prügeln, die ich wegstecken muß, auf Begriffe auffädeln (vgl. 93; 252). Man probiere es mit dem Entzug des Führerscheins: Ungewissheit – Gewissheit – Aggression – Verhandlung – Depression – Annahme – Aktivität - Solidarität

Aber der "Pensionsschock" paßt ebenso ins Raster, und die verlorene Brieftasche genauso und die Fünf in der Mathearbeit erst recht.

4. Die Metakommunikation, der Fetisch
Seit Watzlawick glaubt der informierte Kommunikationsarbeiter zu wissen, daß bestimmte Störungen nur lösbar sind, wenn man aus der Situation aussteigt und sie von oben betrachtet. Allerdings müssen beide Kontrahenten aus dem Clinch gehen, und das eben funktioniert nicht.

Die gepriesene "metakommunikative Kompetenz", die Erika Schuchardt jedem Lehrer in der Weiterbildung empfiehlt (339; 35-45; 105(?); 350; 372ff.; 391; 434; anders dagegen 366; 415ff.), insbesondere natürlich in der Arbeit mit Behinderten, ist (für sich allein) noch keine Zauberdroge. Sie sagt mir nur, warum ich Krach habe - genau wie eine x-beliebige andere Theorie mir Zustoßendes mit dem Schema von Ursache und Wirkung ordnet, ich aber gerade diesem kausalen Muster "absagen" (248; vgl. auch 130!) muß, wenn ich einen verklemmten Zustand wieder beweglich machen will oder wenn ich mich Identitätskrisen aussetze (50). Praxis und Theorie(n), das alte Lied.

Erika Schuchardt weiß natürlich viel von metakommunikativer Theorie - aber die Szenen und Handlungen, in denen sie hier im Buch als "dufter Kumpel" (380) selbst vorkommt, insbesondere die Szene, in der die Verfasserin einer erregten Mutter standhalten muß und drehbuchreif standhält (359-362), enthalten an der Oberfläche nichts von solcher Theorie: hier antwortet ein kluger und offener Gesprächspartner, und nur deshalb "läuft" das Gespräch. Die Frau hat kommunikative Kompetenz, und von Watzlawicks Axiomen hat sie auch mal was gelesen.

Bevor unsere Kultur, wissenschaftsinspiriert, ihre "Meta"-rhetorik erfand und einzuüben begann (und damit ihre Probleme an den Fachmann und seine Herrschaft verschob), hatte sie andere Muster, um mit Reibungen zu leben - z.B. den "weisen Mann" oder den "Unterwürfigen". Das ließ sich in der Bibel und im Alltag finden; wer sich darauf berief, galt, seit der Fortschrittsglaube und damit der Experte herrschte, als konservativ. Deshalb erzähle ich es lieber als Story:

Neulich wollte ich postalisch Geld einzahlen und fragte, endlich drangekommen, nach dem Formular. "Sie stehn genau davor!" Nun hatte ich zwar mal was von Beziehungsaspekt (hier: ruppig) und Inhaltsaspekt (hier: korrekt) gelesen und hätte mich vermutlich über diese Aggression geärgert, wenn nicht am besagten Tag durch eine Reihe von glücklichen Erfahrungen meine Ausflippschwelle höher als das Postamt gelegen hätte. Ich greife zu den Formularen, auf die Schnelle verschreibe ich mich natürlich. "Geben Sie her, ehe Sie noch mehr Unsinn schreiben!" Noch eine Aggression - eigentlich hätte jetzt ein metakommunikativ Wissender die Regie übernehmen müssen. Die Situation war aber kommunikativ leicht mit einem augenaufschlagenden "Danke!" lösbar; ich mußte nur in die mir angebotene Rolle des Dorftrottels hinein - wegen meiner gerade ungewöhnlich hohen Ausflippschwelle war das ganz leicht möglich und völlig hinreichend, alle Mitspieler bei Laune zu halten.

Metakommunikativ wäre die Situation so nicht lösbar (wenn auch leicht erklärbar) gewesen. Ich kann nicht den Praxisvollzug anhalten, Gründe für das Nichtfunktionieren eruieren und in gemeinsamem herrschaftsfreien Diskurs erst Gruppentherapie und dann Geldeinzahlung veranlassen.

Erika Schuchardt beschreibt viele Szenen, auch aggressionsgeladene. Und ihre Protokolle zeigen: Gelegentlich ist in der Weiterbildung eben doch möglich, was vor dem Postamt nicht möglich ist. Man kann unter kundiger Anleitung gemeinsam aussteigen aus dem naiven aggressiven Aufeinanderlosgehen . Der Praxisdruck kann in der Weiterbildung aufgehoben werden. Dann wird sogar gelacht (389) - und dann kann natürlich auch die Metakommunikation gelingen und lösen. Man müsse, so sagt es (389) ein Teilnehmer, "'mal ab und an ... vom Balkon aus zugucken, was die anderen da unten so miteinander spielen und was man selbst da so einfach mitspielt ...'". Der "Balkon" hält sich eine ganze Weile als die Metapher des Sich-und-anderen-Zusehens (391; 397; 399). Das ist, zugegeben, eine Glückserfahrung für den Kommunikationsarbeiter; die Metakommunikation dient dann beiden oder allen Parteien (und setzt nicht einfach die Herrschaft auf anderer Ebene fort). Aber wie schwer verfügbar und wie selten solche Momente sind, weiß jeder, der vom Reden oder Schreiben lebt.

5. Wir, die Mehrheit, sind normal

Zu den aufregendsten Befunden des Buches gehört, daß das "behinderte" Kind sich in seinen ersten Lebensjahren nicht behindert fühlt (368; vgl. 371). Die Umwelt macht den Krüppel zum Krüppel. "'Der Behinderte ist normal - wenn man ihn normal behandelt'" (313). "'Behinderter, das ist man nicht, dazu wird man gemacht ...!'" (431).

Der Mechanismus ist oft beschrieben worden. So macht die Umwelt den Asozialen zum Asozialen und den Ausländer zum Ausländer; vor einigen hundert Jahren wurden so Hexen zu Hexen gemacht. Man konnte die roten Haare ja sehen. Und heutzutage kann man das fehlende Bein oder den Rollstuhl "sehen". Wie viel und was alles übersehen werden muß, ist schwer einsichtig zu machen: der "Normale" muß sich an irgendetwas festhalten, und da nimmt er, was seine Gruppe ihm vorschreibt. Hier geht es um ihn selbst und deshalb klammert er sich an irgendein "primäres" Merkmal. Mit einem Dackel oder einem Kaninchen sind kommunikativ ungestörtere Beziehungen möglich - da sieht man dann das gute Herz oder die treuen Augen mühelos hinein. Bei "Behinderten" hätte man Schwierigkeiten, bei Juden hatte man sie ja auch. Die Mehrheit stabilisiert sich auf Kosten von Opfern.

Optimistisch ließe sich Erika Schuchardts Buch aus der Hand legen in der gläubigen Erfahrung, daß es möglich ist, den sozialen Stigmatisierungsprozeß durch Arbeit und Liebe wieder aufzulösen. Ja, es ist möglich. Aber dieselbe Erfahrung, pessimistisch gewendet, hieße: Mehrheiten definierten in der bisherigen Geschichte, was sie als "normal" gelten lassen wollten, über ausgestoßene Minderheiten: seht mal, so nicht! Solche Minderheiten können im Rollstuhl sitzen oder Judensterne tragen oder unter Brücken nächtigen - im Prinzip ist das egal. Ich will hier keineswegs sogenannte "anthropologische Konstanten" einschmuggeln wie weiland unsere Rassentheoretiker, sondern interpretiere historische Vorkommnisse mit überhistorischen Begriffen: dies ist nicht die Biologie der Gruppen, sondern ihre Geschichte.
Wenn die soziale Integration Behinderter gelingt - und Erika Schuchardt zeigt, daß es möglich ist -, sind damit andere Minderheiten vielleicht schon verurteilt. Erika Schuchardts Doppelsatz, der Behinderte brauche die Gesellschaft, aber die Gesellschaft brauche auch den Behinderten (17), hat einen fatalen Doppelsinn. Wen verbraucht unsere Gesellschaft zur Definition ihrer "Normalität", wenn der "Behinderte" ihr entwunden wird?

Anmerkungen:
)1 Erika Schuchardt, Doppelband: Soziale Integration Behinderter. Bd.1: Biographische Erfahrung und wissenschaftliche Theorie. Bd. 2: Weiterbildung als Krisenverarbeitung. (Theorie und Praxis der Erwachsenenbildung. Westermann-Taschenbuch. 206, 207). Braunschweig: Westermann 1980. IX S.+ 473 S. (ISBN 3-14-167206-7 und 3-14-167207-5)
)2 vgl. z.B. Prof. Dr. Wilhelm Mader, Zeitschrift für Pädagogik,1979; Prof. Dr. Horst Ruprecht, Hessische Blätter für Volsbildung, 1979; Prof. Dr. Hans Tietgens, Lose Blattsammlung der Volkshochschulen, 1980; Prof.Dr. Franz Pöggeler, Zeitschrift für Erwachsenenbildung, 1980, u.a.
)3 Dazu bietet Jakob Muth u.a., Behinderte in allgemeinen Schulen. (neue päd. Bemühungen. 89). Essen: Neue Dt. Schule 1982. 111 S. ISBN 3-87964-240-0)
)4 vollständ. Bibliogr. Angaben bei Jürgen Henningsen, Autobiographie und Erziehungswissenschaft. Fünf Studien. (neue päd. Bemühungen. 87). Essen: Neue Dt. Schule 1981. S. 129; S. 132; S. 133; S. 135 (ISBN 3-87964-237-x)
)5 Erika Schuchardt, Warum gerade ich…? Behinderung und Glaube. Pädagogische Schritte mit Betroffenen und Begleitenden. (Kennzeichen 9). Gelnhausen: Burckhardthaus-Laetare 1981. 143 S. (ISBN 3-7664-0106-8). Vgl. hier S. 122ff
)6 Michel Foucault, Psychologie und Geisteskrankheit. (Maladie mentale et Psychologie. 1954). (edition suhrkamp.272) Frankfurt/M.: Suhrkamp 1968. 132 S