Rezensionen - Krisen-Management und Integration

eskulab

Prof. Dr. Derbolowsky, Leiter des Berufsbildungszentrums Hamburg,

In: Erfahrungsheilkunde - Zeitschrift für Ärztliche Praxis – acta medica empiria, Band 32, Heft 12, 1983

…Die beiden ansprechenden Bände gehören zu dem Besten, was … heute zu haben ist. Sie weisen über Verständnis und Anteilnahme hinaus in das Handeln…

Rezension: Das Beste, was zu haben ist

In einer zweibändigen, überaus gründlichen Abhandlung über die soziale Integration Behinderter legt Erika Schuchardt die Er-gebnisse umfangreicher konkreter Erfahrungen vor, die sie im Rahmen der Erwachsenenbildung und -weiterbildung, insbesondere an Volkshochschulen, erworben hat. Sie ist zu der überzeuenden Einsicht gelangt, daß Krisenverarbeitung ein Lernprozeß ist, in dem man den Betroffenen allein lassen, stören oder aber auch sachkundig begleiten kann. Diese "Lernprozesse Krisenverarbeitung" können zu Isolation oder bei geeigneter Begleitung zur Integration der Krise in die eigene Biographie des Betroffenen und zu seiner sozialen Rehabilitation führen. Zur besseren inneren Veranschaulichung des "Lernprozesses Krisenverarbeitung" bietet die Verfasserin das Bild einer Spirale an, bei der sie acht Spiralphasen unterscheidet, wobei sich eine aus der anderen herausentwickelt, wenn der Prozeß in geeigneter Weise verläuft.

Die Verfasserin teilt diesen Lemprozeß in drei Etappen ein. Als Eingangsstadium kennzeichnet sie eine fremdgesteuerte Dimension. Hier geht es um Kognition. Hier treffen wir als erste Spiralschleife die "Ungewißheit": "Was ist eigentlich tos?" Als zweite Spiralschleife kommt es zur "Gewißheit": "Ja, aber ... das kann doch nicht sein!" Die dritte Spriralschleife trägt die Bezeichnung, "Aggression": "Warum gerade ich?" Sie führt in die zweite Etappe, die als Durchgangsstadium, als ungesteuerte Dimension, gekennzeichnet wird. Hier geht es um Emotion. Die vierte Spiralschleife wird als "Verhandlung" bezeichnet: "Wenn, dann muß aber ...l" Sie wird von "Depression" als fünfter Spiralschleife gefolgt: "Wozu, alles ist sinnlos". Und erst hieran schließt sich die dritte Etappe, das als "selbstgesteuerte Dimension" gekennzeichnete Zielstadium an. Hier geht es um "Aktionalität" mit den Spiralschleifen ,,Annahme": "Ich erkenne jetzt erst...", "Aktivität": ,,Ich tue das" und "Solidarität": "Wir handeln".

Die Verfasserin belegt diese strukturelle Abfolge mit zahlreichen biographischen Analysen aus der Weltliteratur. Ihr gelingt der Nachweis, daß der "Spiralphasen-Lernprozeß Krisenverarbeitung" auch bei unterschiedlichen Behinderungsarten analog verläuft. Die praktischen Erfahrungen mit dem "Interaktionsmodell Hannover" haben das Lernen als Krisenverarbeitung nicht nur bestätigt, sie sind zugleich Vorbild für entsprechende Aktivitäten unserer Gesellschaft überall dort, wo Menschen sich mit eigenen Behinderungen oder mit solchen in ihren Familien oder in ihrer Nachbarschaft auseinanderzusetzen haben. Im Mittelpunkt der gewonnenen Einsichten scheint mir die Erkenntnis zu stehen, daß die Entscheidung, ob eine Krisenverarbeitung gelingt oder nicht, mit dem Einsatz, der Entfaltung und Einbeziehung von Aggression aufs engste zusammenhängt. Zwar sind diesem Problem im ersten Band nur knapp zwei (102-104) und im zweiten Band nur einund-dreißig (296-327) Seiten ausdrücklich gewidmet. Es zeigt sich jedoch deutlich, daß hier der Angelpunkt liegt, um den herum die kognitive von der emotionalen Dimension überwunden wird. Die Aggression, vielleicht wäre es besser, von Aggressivität, also von Angriffslust statt von Angriffstat zu sprechen, stellt das motorische Element des Lebens dar. Erst wenn sie einschießt (ich entlehne diesen Begriff dem Laktationsvorgang!), werden realitätsgerechte Verhandlung, Aktivität und Solidarität ermöglicht. Hier liegt eines der Hauptprobleme für den Begleiter beim Lernprozeß Krisenverarbeitung. Er muß imstande sein, die aufbrechende Aggressivität nicht nur auszuhalten, sondern gemeinsam mit dem Betroffenen einzubinden in die Lebendigkeit seines Lebens.

Noch wesentlich kürzer kommt in der Darstellung der andere Angelpunkt, der aus der emotionalen, der ungesteuerten Dimension in das Zielstadium eigenständiger, kommunikativer Handlung führt: Die Depression (Band 1, S. 105). Hier haben die von der Psychoanalyse herausgearbeiteten Probleme von Oralität und Analität als von Besitzstandsängsten aller Art und von Besitzwünschen ihr unübersehbares Gewicht, das für den Fachmann aus der reichen Kasuistik ohne weiteres erkennbar ist, auch wenn es in dem gegebenen Rahmen von der Verfasserin nicht explizit diskutiert wird.

Wer mit Behinderten zu tun oder zu leben hat, sollte die beiden ansprechenden Bände gründlich studieren. Mit Zusammenfassung, Anmerkungen, drei spezifisch gegliederten Literaturverzeichnissen und einer Bibliographie versehen, von nahezu 200 Biographien aus 1900 bis 1983, aufgegliedert nach Behinderungsarten und Status der Verfasser, gehören sie zu dem Besten, was auf diesem Gebiet heute zu haben ist. Sie weisen über Verständnis und Anteilnahme hinaus in das Handeln. "Der Behinderte braucht die Gesellschaft, und die Gesellschaft braucht 'den Behinderten'“!. Diese Kernthese von Erika Schuchardt ist als Appell zu verstehen, Täter des Wortes zu sein und Liebe tatsächlich zu üben.