Rezensionen - Krisen-Management und Integration

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Prof. Dr. Herbert Susteck, Lehrstuhl Sonderpädagogik, Universität Bochum,

In: Rundbrief-Dienst der Bundesarbeitsgemeinschaft Hilfe für Behinderte, Heft 2, 1982

... Provokativ lautet die Kernthese der Autorin 'Der Behinderte braucht die Gesellschaft und die Gesellschaft braucht den Behinderten.' ... Die Bände leisten eine gute Informations- und Argumentationshilfe zur Integration ... Als Beitrag zur Meinungsbildung und Aufforderung zum sozialen Engagement kommt ihnen in unserer vielgestalteten Welt wegweisende Bedeutung zu...
...Bei der Lektüre der beiden Bücher ist mir klar geworden, dass sie nicht nur in die Hände derer gehören, die Umgang mit Behinderung haben, sondern jeden Mitmenschen angehen, der heute wach in der Zeit steht, insbesondere jeden Pädagogen.
Das Integrations-Konzept resultiert nicht nur aus christlichen Motiven, es folgert aus jener zukunftsoffenen anthropologischen Grundposition, die nicht einseitig dem Leistungs- und Wachstumsdenken verhaftet ist...

Rezension: Bücher, die jeden angehen (Rezension I)

Die Kernthese der Verfasserin lautet: "Der Behinderte braucht die Ge-sellschaft, und die Gesellschaft braucht den Behinderten." Während der liberal denkende Bürger gewöhnlich bereit ist, den ersten Teil des Satzes zu bejahen, meldet er für die zweite Hälfte erhebliche Zweifel an. Daß die "Gesunden", "Normalen" der Behinderten zu ihrer Selbstverwirklichung, zur Gewinnung humaner Züge bedürfen, erscheint ihm nicht plausibel. Dabei stellt die Ungleichheit der Menschen ein zentrales Problem in verschiedenen Wissenschaften dar, so der Soziologie, der Theologie, der Erziehungswissenschaft. Wie es in der Vergangenheit keine Gesellschaft ohne Behinderte gab, wird es auch in Zukunft — ungeachtet aller sozialen Anstrengungen und medizinischen Fortschritte - immer Behinderte geben. Wo jedoch das 'Normalsein' aufhört und die Behinderung beginnt und inwieweit Behinderte zu einer Annahme ihrer selbst kommen, hängt von den Wertvorstellungen und Toleranzgrenzen innerhalb eines Gemeinwesens ab. Die Frage richtet sich also darauf, wie mit diesen Menschen umzugehen ist, welche Freiräume und Mitwirkungsmöglichkeiten wir ihnen zugestehen.

Am eindrucksvollsten erscheinen die von Erika Schuchardt analysierten und kommentierten Biographien über Behinderte, die einen Teil des ersten Bandes ausmachen. Der 'gesunde' Leser fragt sich unvermittelt, warum denn ihm (unverdient und unbegreiflich) ein solches Schicksal erspart blieb. Und er verwirft nach einigem Nachdenken die "Verschuldensthese", die als Erklärungsmodell in verschiedenen Kulturen und Religionen anzutreffen ist und auch im Neuen Testament auftaucht: "Rabbi, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß er blind geboren wurde?" (Joh, 9,2).
Schließlich wird der Leser zur Bescheidenheit veranlaßt, wenn er etwas von dem Lebensverständnis der unheilbar Kranken erfährt. Er widersteht der Versuchung, lauthals und leichtfertig zu verkünden, was denn für sie gut wäre. Er schreckt vor Äußerungen zurück, die mancher unbedacht von sich gibt: "Wenn ich so krank wäre wie der, hätte ich längst Schluß gemacht!"

Die Autorin kristallisiert aus den Einzelfallstudien ein Krisenverarbeitungsmodell heraus, das die Betroffenen mehr oder weniger in acht "Spiralphasen" durchlaufen: Ungewißheit, Gewißheit, Aggression, Aktivität und Solidarität. Ausführlich geht sie auf die häufig im Todeswunsch gipfelnde Stufe der Aggression ein. Hier wird deutlich, in welchem Ausmaß Behinderte und ihre Angehörigen auf die Annahme durch die Gesellschaft angewiesen sind, um in ihrer Verzweiflung und Ausweglosigkeit die Hoffnung auf ein sinnvolles Leben nicht zu verlieren. Wie der Titel der Schrift schon sagt, erteilt die Verfasserin allen Segregationsmodellen, die Behinderte abgeschirmt in komfortablen Heimen etc. untergebracht wissen möchten, eine Absage, weil der Gesunde sonst Gefahr läuft, sein 'Angewiesensein' auf diese Menschen zu verdrängen, dem Lernprozeß der Identitätskrise ein Leben lang auszuweichen.

Integration darf nach Erika Schuchardt nicht mit Assimilation verwechselt werden; letztere ist nur eine Vorstufe. Integration meint die Anerkennung des Behinderten als gleichwertigen Partner, wobei seine "Abweichung vom Normalverhalten" als individuelle Eigenart, nicht aber als Minderwertigkeit gilt. Die Verfasserin, selbst als Erziehungswissenschaftlerin an der Universität Hannover tätig, geht im 2. Band vorwiegend auf pädagogische Konsequenzen ein, wenn sie u.a. von dem Lernen als Krisenverarbeitung an Volkshochschulen berichtet.

Bei der Lektüre der beiden Bücher ist mir klar geworden, daß sie nicht nur in die Hände jener gehören, die Umgang mit Behinderten haben, sondern jeden Mitmenschen angehen, der heute wach in der Zeit steht, insbesondere jeden Pädagogen. Das Integrationskonzept resultiert nicht nur aus christlichen Motiven; es folgert aus jeder zukunftsoffenen anthropologischen Grundposition, die nicht einseitig dem Leistungs- und Wachstumsdenken verhaftet ist. Die beiden Bände leisten eine gute Informations- und Argumen-tationshilfe; als Beitrag zur Meinungsbildung (und Aufforderung zum sozialen Engagement) kommt ihnen in unserer vielgestalteten Welt wegweisende Bedeutung zu.

Rezension: Provokative Kernthese (Rezension II)

Etwas provokativ lautet die Kernthese der Autorin: "Der Behinderte braucht die Gesellschaft und die Gesellschaft braucht den Behinderten." Aus dieser Perspektive analysiert und kommentiert sie Biographien über Behinderte, die deren Lebensverständnis erhellen. Aus Einzelfallstudien filtert die Verfasserin ein Krisenverarbeitungsmodell heraus, das die Betroffenen in acht Phasen durchlaufen, bis sie zur Annahme ihrer selbst gelangen. Die Bände leisten eine gute Informations- und Argumentationshilfe zur Integration Behinderter; als Beitrag zur Meinungsbildung und Aufforderung zum sozialen Engagement kommt ihnen in unserer vielgestalteten Welt wegweisende Bedeutung zu.