Rezensionen - Krisen-Management und Integration

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Dr. Karl Alfred Odin, Feuilleton-Leiter der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) (zwei Artikel), Frankfurt

In: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 10.12.1986, Nr. 286


...Erika Schuchardt stellt der Sterbeforscherin Kübler-Ross die Frage entgegen:… 'Wie kann man lernen zu leben, unter Bedingungen, die scheinbar nicht mehr lebbar sind?’… Frau Prof. Dr. Erika Schuchardt untersuchte 400 Lebensgeschichten (Anm.: aktueller Stand über 2000)… aus mehreren Ländern … (FAZ Artikel I)

FAZ-Rezension: Wenn Leiden ein Grundbestand des Lebens ist -
Kolloquium über die Integration Behinderter (Artikel I)

Bonn, 9. Dezember. Auf fünf bis sechs Millionen schätzt man die Zahl der Behinderten im Westen Deutschlands. Für die körperlich oder geistig Behinderten hat die Bundesrepublik: Deutschland ein Versorgungssystem bereit wie kaum ein anderer Staat. Zur Früherkennung und 'Frühförderung der Kinder, die behindert oder von Behinderung bedroht sind, gibt es neben 3000 niedergelassenen Kinderärzten fast 50 sozialpädagogische Einrichtungen. 500 Frühförderungsstellen, dazu regionale Institutionen und Sonderkindergärten. Es gibt Sonderschulmaßnahmen, aufgegliedert nach der Behinderung an die zehn verschiedene Arten von der geistigen, körperlichen oder Lernbehinderung bis zu Verhaltensstörungen. In den siebziger Jahren entstanden 37 Berufsbildungswerke mit 10 000 Plätzen zur Erstausbildung. 21 Berufsförderungswerke mit 12 000 Plätzen und 330 anerkannte Werkstätten für 80 000 geistig behinderte Erwachsene.

Trotz dieser Aufwendungen ist die Frage, ob sich das Ziel erreichen läßt: Können die Behinderten soweit wie möglich am sogenannten normalen Zusammenleben aller teilnehmen, oder nimmt mit der wachsenden Versorgung durch Institutionen die Sorge der Nichtbehinderten für die Betroffenen ab? Das Bedenken ist, daß man den guten Vorsätzen zum Trotz bei umfangreicher Fürsorge die Behinderten, statt sie zur Integration zu führen, in die Isolation, die Segregation stößt.

Kann man soziale Integration Behinderter erlernen, vermitteln? Diese Frage hat das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft, am Beispiel der Erwachsenenbildung prüfen lassen. Fünf Jahre wurde an der Untersuchung gearbeitet, die am Montag und Dienstag in Bonn die Professorin Erika Schuchardt aus Hannover in einem Kolloquium im Wissenschaftszentrum vorstellte. Das Thema hieß: "Schritte aufeinander zu - Soziale Integration Behinderter und die Weiterbildung". An dem Gespräch nahmen Wissenschaftler und Praktiker aus mehreren Ländern teil, manch einer selbst behindert. Zu diesem Anlaß legte auch die Marburger Forschungsstelle für Vergleichende Erziehungswissenschaft die Resultate einer Paralleluntersuchung über einige westliche Industrieländer vor.

Die Weiterbildung ist für die Behinderten keine Randfrage. Der Nichtbehinderte neigt dazu, die Weiterbildung Behinderter nur aus dem Blickwinkel der beruflichen Schulung zu sehen, als Eintrittskarte der Betroffenen in die Gesellschaft. Dagegen wehrten sich alle Teilnehmer des Kolloquiums: "Integration der Behinderten ist nicht Assimilation.“ Ein Schwerbehinderter sagte: "Integration darf nicht heißen, den Behinderten stromlinienförmig den Normalen anzupassen." Die Lasten der Integration dürften nicht nur dem Behinderten auferlegt werden. Die Impulse müßten auch von den Nichtbehinderten ausgehen. Sie und nicht die Behinderten seien das Haupthindernis der Integration.

Erika Schuchardt zeigt in ihren Untersuchungen, daß durch Weiterbildung unabhängig von Berufsfragen der Behinderte einen neuen Sinn im Leben finden kann. Er kann durch Bildung lernen, mit seiner Behinderung zurechtzukommen, und er kann dadurch auch den Nichtbehinderten zum unbefangenen Umgang mit den Betroffenen helfen. Die Sterbeforscherin Kübler-Ross fragte: "Wie kann man sterben lernen?" Diesem Satz stellte Erika Schuchardt die Frage entgegen: "Wie kann ich leben lernen? Wie kann man lernen zu leben, unter Bedingungen, die scheinbar nicht mehr lebbar sind?" Das heißt leben mit der Todesgewißheit Aids, mit der fortschreitenden Multisklerose, mit einem schwerbehinderten Kind.

Frau Professor Dr. Schuchardt untersuchte 400 Lebensgeschichten (Anm.: aktueller Stand 2000) Behinderter aus mehreren Ländern. Diese Behinderten hatten niemanden gehabt, mit dem sie über ihre Fragen sprechen konnten. Sie schrieben sich den Druck des Leidens von der Seele, bis hin zu Pearl S. Buck. Zehn Jahre brauchte die Schriftstellerin, bis sie ja sagen konnte zu ihrem geistig behinderten Kind. Beim Vergleichen der Biographien stellte sich heraus, dass im Durchschnitt alle Behinderten lange einander ähnelnde Prozesse von Stufe zu Stufe durchlaufen mussten, ehe sie lernten, der Krise Herr zu werden. Frau Schuchardt: "Nicht die körperliche oder die geistige Behinderung ist das Schwerste. Vielmehr sind die Reaktionen der anderen das, was den Betroffenen in die Krise treibt." Mit diesen Reaktionen muß er leben lernen. Das Lernen endet deswegen nie, dieser Bildungsgang dauert lebenslang.