Rezensionen - Krisen-Management und Integration

die bmbf

Prof. Dr. Hans Tietgens, Direktor der Pädagogischen Arbeitsstelle des Deutschen Volkshochschul-Verbandes (PAS/DVV), des heutigen Deutschen Instituts für Erwachsenenbildung (DIE)

In: Schriftenreihe des Bundesministeriums für Bildung und Wissenschaft (BMBW), Studien 58, Bonn, 1988

…Veröffentlichung bahnbrechend für die Erwachsenenbildung, für 'Schritte aufeinander zu’ … – Erika Schuchardt geht es um ein 'Umdenken als Zukunftschance’ – um Erwachsenenbildung als ,wechselseitiges Lernen’...

Rezension: Bahnbrechend für die Erwachsenenbildung

Es liegt acht Jahre zurück, daß die beiden Bände von Erika Schuchardt "Soziale Integration Behinderter" in der Theorie und Praxis-Reihe der Pädagogischen Arbeitsstelle erschienen sind. Eine dritte erweiterte Auflage ist bei Klinkhardt erschienen; bemerkenswerterweise signalisiert bereits die Titelumstellung der Neuauflage das geforderte 'wechselseitige Lernen', so wurden die ehemaligen Untertitel zu Haupttiteln, Band1: "Biographische Erfahrung und wissenschaftliche Theorie", Band 2: "Weiterbildung als Krisenverarbeitung", die neuen Untertitel "Soziale Integration Behinderter" verweisen lediglich auf das Exemplarische solcher Lernprozesse.

In der Zwischenzeit hat die Autorin mehrere andere Veröffentlichungen zum Thema herausgebracht. Ihr geht es um ein 'Umdenken als Zukunftschance'. Danach will begriffen sein, daß eine Erwachsenenbildung mit behinderten Menschen eine 'Krisenverarbeitung als Lernprozeß' auf Gegenseitigkeit erfordert, jene Bildungsarbeit also als 'wechselseitiges Lernen' zu verstehen ist.

Nur ein Interaktionskonzept kann hier im Sinne des weiteren Buchtitels "Schritte aufeinander zu" eine Hilfe bieten. Es kann sich auf Analysen stützen, die einen Entwicklungsprozeß angesichts der Verarbeitung existentieller Krisen in Spiralphasen erkennen lassen und der wiederum in einen wechselseitigen Drei-Schritte-Prozeß - Stabilisierung, Integration, Partizipation – didaktisch-methodisch aufgearbeitet werden kann. Dieses aus früheren Darstellungen bekannte Krisenverarbeitungsmodell ist in dem neuen Buch "Schritte aufeinander zu" noch einmal knapp und einprägsam unter den Vorzeichen "Separation versus Integration" zusammengefaßt. Was darüber hinaus nunmehr vorliegt, ist aus Erhebungen und Gutachten hervorgegangen, die im Rahmen der Förderung durch das Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft möglich geworden sind. So findet sich in dem neuen Band ein Aufriß der "Rahmenbedingungen für die soziale Integration Behinderter in das Bildungs- und Gesellschaftssystem" von Ulrich Bleidick, der die Grundthese von Erika Schuchardt insofern stützt, als auch hier von der Abwandlung des kategorischen Imperativs ausgegangen wird, "Behinderte so zu behandeln, wie man selbst behandelt werden möchte" (S. 53). Ebenso kann sich der Leser über "Grundlagen, Entwicklungen und Perspektiven" der Rehabilitation ins Bild setzen. Dabei bringt der Verfasser dieses Teils, Gerhard Greza aus dem Bundesministerium für Arbeit und Sozialordnung, durchaus auch die bürokratischen Hürden zur Sprache, die einer Integration behinderter Menschen entgegensteht.

Den in der Erwachsenenbildung Tätigen werden aber wohl vor allem die Berichte darüber interessieren, was in der Praxis geschieht. Dabei handelt es sich zum einen um eine bundesweite Längsschnittuntersuchung 1979/81/83 auf der Basis einer schriftlichen Umfrage bei allen Weiterbildungsträgem in der Bundesrepublik Deutschland sowie einer mittels elektronischer Datenverarbeitung geleisteten Arbeitsplananalyse aller Volkshochschulen über 45.000 verarbeitete Daten und überdies 80 Interviews mit haupt- und nebenamtlichen Mitarbeitern der Erwachsenenbildung. Zum anderen werden 14 in Wort und Bild sehr anschauliche "Praxis-Fall-Studien" - repräsentativ für alle Bundesländer - dokumentiert. Während der Trendbericht weitgehend auf Volkshochschulen beschränkt bleiben mußte, konnte mit der Beispielsammlung von Modellen die Breite der pluralistischen Möglichkeiten erfaßt werden. Bei den Detailschilderungen wird deutlich: Das Krisenverarbeitungs-Spiral-Modell und dessen didaktisch-methodische Umsetzung in das Drei-Schritte-Konzept (Stabilisierung, Integration, Partizipation) bieten nicht nur ein theoretisches Gerüst, sondern eine Interpretationshilfe zur Situationseinschätzung und zur Vorgehensweise.

Allerdings ist auch unverkennbar, wie sehr das Gelingen von günstigen personellen Ausgangskonstellationen abhängt, die alles andere als selbstverständlich sind. Dies kommt bei der Übersichtsdarstellung ebenso zum Ausdruck wie bei den vorgestellten Exempeln und der Auswertung der 80 Interviews. Bezeichnend dafür ist, daß der Auftrieb durch das "Behindertenjahr" nicht durchgehalten werden konnte und der erfolgreiche Einzelfall an ein Ausmaß von Engagement gebunden ist, das sich auch nicht beliebig lange durchhalten läßt. So wird einmal mehr die Misere der Erwachsenenbildung deutlich. Mit ständig neuen Aufgaben konfrontiert, gesteht man ihr dennoch nicht die personellen und finanziellen Ressourcen zu, ihnen nicht nur gelegentlich, sondern in aller Breite zu entsprechen. Dies würde gerade bei einer integrativen Erwachsenenbildung gemeinsam mit Behinderten und Nichtbehinderten auch ein beträchtliches Maß an Fortbildung erfordern.

Wie dies aussehen müßte, das allerdings zeichnet sich an dem deutlich ab, was Erika Schuchardt im ersten systematischen Teil des Buches als Integrations-Pädagogik/Andragogik entwickelt. Danach könnten die "Schritte aufeinander zu" wesentlich verbessert werden, wenn sie - auf der Grundlage der hier vorgelegten Theorie-Praxis-Konzeption - nicht nur allerorts gewagt, sondern auch durch erweiterte Aus-, Fort- und Weiterbildungsangebote initiiert würden. Es gilt, nach dem Prinzip Hoffnung einer sich weitgehend sperrig zeigenden Umwelt durch mutmachende Beispiele die Erweiterung von Bildungsprogrammen abzuringen. Das wird auf die Dauer nur auf der Basis der Kompetenzerweiterung derer gelingen, die sich dafür einsetzen. In diesem Sinne kann die Veröffentlichung -unterstützt durch das Wissenschaftliche Kolloquium Bonn, die Austellung und die Dokumenmtation - als bahnbrechend für die Erwachsenenbildung, für "Schritte aufeinander zu" verstanden werden.