Rezensionen - Tschernobyl

boersenblatt kopf

"...der Mensch im Mittelpunkt ihrer Arbeit..."

Laudatio zur Buchpräsentation "Die Stimmen der Kinder von Tschernobyl"
In der Deutschen Parlamentarischen Gesellschaft (DPG), Verleger H.Herder, Bonn 1996

 

Die Kinder von Tschernobyl: Die Erziehungswissenschaftlerin, Bundestagsabgeordnete und Buchautorin Dr. Erika Schuhardt hat zusammen mit dem Schriftsteller Lew Kopelew die Studie "Die Stimmen der Kinder von Tschernobyl" (Herder/Spektrum) veröffentlicht. In der Parlamentarischen Gesellschaft in Bonn wurde das Werk, das sich vor allem mit den psychosoziallen Aspekten der von der Reaktorkatastrophe betroffenen Kindern befasst, vorgestellt.
Foto: Verleger Hermann Herder mit Autorin Schuchardt
 

"Überall wo ich auch war, hatte ich ein Bild, nein, viele Bilder, eine ganze Fülle von Bildern. Diese Bilder trage ich in meiner Seele wie in einem Traum. Wissen Sie, ich glaube, ich kann es jetzt so sagen: Aus den Tränen ist ein Traum geworden. "

Was sind das für Bilder? Was sind das für Tränen? Was ist das für ein Traum?

Sie, sehr verehrte Frau Professor Schuchardt, berichten in eindrücklicher Weise von den Betroffenen der Katastrophe vom 26. April l986. Das ist fast auf den Monat 10 Jahre her, und auch aus diesem Anlass findet heute diese Premiere statt. Ich möchte Sie im Namen des Verlages und meiner Mitarbeiter ganz, ganz besonders herzlich begrüßen und freue mich, dass wir heute gemeinsam dieses Werk vorstellen können.

Ich darf Sie, sehr verehrte Frau Präsidentin des Bundestages, liebe Frau SÜSSMUTH, sehr herzlich begrüßen, ebenso Sie, Herr DR. SCHÄUBLE, verbunden mit dem Dank dafür, dass Sie sich beide die Zeit genommen haben, hier zu uns zu kommen und damit Ihr persönliches Interesse an diesem Werk und an den dahinterstehenden Ereignissen zum Ausdruck zu bringen. Sie identifizieren sich durch Ihre Anwesenheit mit dem Anliegen, das Frau Professor SCHUCHARDT stellvertretend für viele, viele Helferinnen und Helfer formuliert hat und nachher persönlich noch vortragen kann. In dem Vorwort zu dem Bändchen, das kein Geringerer als der Russe KOPELEW geschrieben hat, der zu unserem ganz großen Bedauern gestern Abend mitteilen musste, dass er aus gesundheitlichen Gründen sich außerstande sähe zu kommen; er wäre sehr gerne heute hier mit anwesend, schreibt KOPELEW unter anderem, dass „das Werk einen lyrischen Charakter hat. Es sei wissenschaftlich, es sei leidenschaftlich geschrieben, es sei publizistisch verfasst", aber "lyrisch"? frage ich.

Wer dieses Buch liest, der wird bestätigen, dass das eine das andere nicht ausschließt. Das eine ist die präzise wissenschaftliche Darstellung und die Arbeit, die dieser Ausarbeitung zugrunde liegt, das andere die einfühlsame Art und Weise, in der die Autorin dieses Werk niedergeschrieben hat. Wer sich die Mühe macht, die umfängliche Liste Ihrer wissenschaftlichen Publikationen durchzugehen, Frau Professor SCHUCHARDT, der spürt sofort, die Verfasserin ist mehr als nur Wissenschaftlerin. Hier steht der Mensch im Mittelpunkt Ihrer Arbeit. Der Mensch steht im Mittelpunkt des wissenschaftlichen Forschens und Lehrens, aber nicht nur im Bereich der Wissenschaft, sondern er steht auch im Mittelpunkt Ihres menschlichen Handelns. Und darum ist diese Publikation gekennzeichnet nicht nur durch die wissenschaftliche Korrektheit, sondern durch die Sprache des Menschen. Und zwar die Sprache des einfachen Menschen. Und die Sprache des einfachen Menschen ist die Sprache der Bilder.

Der Umgang mit den Bildern ist für die Autorin von großer Bedeutung, das spürt der Leser gleich auf den ersten Seiten. Und ich bin überzeugt, nach der Lektüre des Manuskriptes und jetzt des vorliegenden Buches, dieser Umgang hat die Autorin auch hellsichtiger gemacht. Sie, verehrte Frau Schuchardt, schärfen die Aufmerksamkeit des Lesers durch die Art und Weise, wie Sie schreiben. Ich gestehe vor diesem Forum interessierter und anderer teilnehmender Anwesender gerne, dass mir durch Ihre Publikation einiges deutlich geworden ist. Wenn Sie mir erlauben und wenn der Herr Politiker erlaubt, dass ich ein paar Minuten länger spreche, dann möchte ich das gerne ausführen. Sie zitieren an einer Stelle EINSTEIN, der gesagt hat: Durch die Katastrophe der Atombombe - er bezog sich auf Hiroshima und Nagasaki - habe der Mensch erkannt, dass er an die Grenze des Machbaren gekommen ist. Ich würde das gerne um einen weiteren Aspekt ergänzen. Der Mensch erkennt, dass er an der Grenze des Machbaren ist, aber er lässt nicht vom Machbaren. Das ist eine Urbestimmung und eine Grundbestimmung des Menschen.


In Ihrem – ,unserem' Herder-Bändchen der Spektrum-Reihe sind Worte verwandt und sind Bilder, die aufscheinen: "Feuer von Tschernobyl " und " Tragödien von Tschernobyl " und Ihr beschwörender, immer sich wiederholender Hinweis auf die ungeheure " Gefahr des Gedächtnisverlustes der Menschheit". Wenn ich hier noch einmal Feuer und Tragödien zitiere, dann fällt demjenigen, der die Gelegenheit hatte, sich mit der griechischen Tragödie zu befassen, natürlich sofort ein Urbild ein, das Urbild, das zu den Urbildern der Menschheit überhaupt gehört, nämlich die Tragödie von PROMETHEUS.

Ich erinnere daran, dass PROMETHEUS die Menschen im Dunkeln sah. Auch das Wort dunkel wiederholt sich ständig in Ihrer Publikation. Dass er sich erbarmte dieser Menschen im Dunkeln, und dass er ihnen das Feuer gab. Die Griechen wussten sehr genau, dass der Raub einer Gabe nicht umsonst geschehen war. Der Tätige ist im Falle von PROMETHEUS Selbstversorger. Denn er wurde, wie wir wissen, angekettet an den Felsen des Kaukasus, und ein Adler kam täglich, um ihm seine Leber zu fressen.

Heute in TSCHERNOBYL leidet nicht der Täter, der Titan, sondern es leiden die Unschuldigen. Und die Unschuldigen haben eine Zahl erreicht, die wir mit Schrecken aus Ihrer Publikation entnehmen. Es sind wohl eine viertel Million Arbeiter, die an dem, wie Sie es ausdrücken, Sarkophag gearbeitet haben, nämlich dem verstrahlten Atomkraftwerk. Wir werden das von Ihnen sicher nachher noch hören, und es sind sicher allein eine halbe Million Kinder, die betroffen sind, von denen inzwischen die ungewöhnliche Zahl von 70.000 Kindern nach Deutschland gekommen ist. Diese Kinder sind stellvertretend, und stellvertretend stehen die Helfer auch für die Wiedergutmachung dessen, was früher geschehen ist und für das die, die diese Hilfe leisten, nichts. können, aber stellvertretend eintreten für die, die es zu verantworten haben. "Die Dunkelheit", und ich darf zum Schluss noch einmal Sie selbst zitieren, "ist zwar noch jeden Tag da ", so sagt ein Kind bei einem der Interviews, die Sie geführt haben. "Die Dunkelheit ist zwar noch jeden Tag da, aber sie hat sich verändert, ,ich’ so sagt das Kind im Gespräch mit Ihnen, „ich sehe in der Dunkelheit einen Engel.“ Und dieses Licht ist die Hoffnung. Und die Hoffnung steht über dieser Arbeit, die Sie geleistet haben und leisten, sie steht auch über dem Buch. Wer Ihren Lebenslauf kennt und Ihr Engagement in der Evangelischen Kirche, im Lutherischen Weltbund und im Ökumenischen Rat der Kirchen, wird nicht verwundert sein, daß das eine Ihrer geheimen Kraftquellen ist.

Ich darf schließen mit einem Zitat, das stellvertretend stehen möge für Ihre Gesinnung, für Ihre Arbeit und für Ihre Publikation: Ein Kind, diesmal aus Deutschland, ein Kind von Gasteltern, die ein solches Kind aus Tschernobyl aufgenommen haben, sagt:

„Tschernobyl, das ist für mich Tatjana und
das ist für mich Tschernobyl.
Tatjana und ich, wir beide gehören doch ganz einfach zusammen,
so wie der Regenbogen.“

Und wie wir, die wir nach schlechtem Wetter gelegentlich den Regenbogen sehen, wissen, das Kennzeichen des Regenbogens sind die gebündelten Farben, so vertreten Sie gewissermaßen als Regenbogenbild die gebündelten Kräfte all derjenigen, die an Ihrer großen Aktion teilnehmen. In diesem Sinne möchte ich Sie ganz herzlich alle willkommen heißen.