Rezensionen - Warum gerade ich...?

lwb

Dr. Christian Krause, Präsident des Luth. Weltbundes (LWB), Genf, CH
In: Nachrichten des LWB, Genf, CH, 2002


... ein Lebensbuch und ein Glaubensbuch, ein Lehrbuch und ein Lernbuch, vor allem anderen aber ein Hoffnungsbuch, (das) ungeachtet des hohen wissenschaftlichen Anspruchs ... nur aus dem Engagement des Herzens ... rund um die Welt Zustimmung finden könnte ... Danke dafür Erika Schuchardt ...

Rezension: Ein Lebens- und Glaubens-Buch, ein Lehr-, Lern- und Hoffnungs-Buch

Anfang der achtziger Jahre hat das Deutsche Nationalkomitee des Lutherischen Weltbundes (DNK/LWB) eine Buchreihe initiiert, die unter der Gesamtüberschrift "Frauen als Innovationsgruppe“ erschienen ist. Im Team der Autorinnen und in der Begleitung der Gesamtstudie hat Prof. Dr. Erika Schuchardt maßgeblich mitgearbeitet. Daher kennen wir uns; denn ich war damals als Oberkirchenrat in der Geschäftsführung der DNK/LWB tätig. Es waren "Aufbruchsstudien“ – Aufbrüche eben zur Innovation, zur Erneuerung des Denkens und Handelns, der menschlichen Erkenntnis und des Glaubens und Vertrauens auf den Weg Gottes unter den Menschen. Frauen haben diesen Aufbruch damals unternommen, in unserem Fall vor ca. 25 Jahren, als z.B. Theologie und Kirche, aber auch andere wissenschaftliche und gesellschaftliche Bereiche noch vornehmlich von Männern beherrscht waren. Neben Erika Schuchardt nenne ich Gerta Scharffenorth, die in der gesamten Buchreihe damals die so genannte "Schwesternstudie“ maßgeblich von der Forschungsstelle der Ev. Studienstiftung (FEST) in Heidelberg aus begleitet hat und die später beim Kirchentag ‘93 einen bemerkenswerten Vortrag hielt zum Thema: "Leben ohne Schmerz und Leid?“

Die permanente, vor allem mediale Demonstration jugendlich pulsierender Kraft und in Blüte stehende Gesundheit drängt an den Rand und aus dem Blickfeld heraus, was doch eben zum Leben gehört wie das tägliche Brot, nämlich die unmittelbare Erfahrung eigenen oder neben mir erlebten Leidens. Ja, man hat oft fast den Eindruck, als ob ganz alte Vorstellungen nun in neuem Gewande wieder aufleben, nämlich die Verbindung von Leiden und Schuld: Früher die Frage: "Welche Schuld hat er auf sich geladen, dass er so oder so von Gott gestraft wird?“ Heute die Feststellung gegenüber behinderten Kindern: Da sind die Eltern selber Schuld, sie hätten es ja verhindern können.

Je verbrämter und verherrlichter die Vision vom Leben ohne Schmerz und Leid als idealtypisch propagiert wird, umso tief greifender ist der Einbruch, wenn es einen trifft – das, was wir ein Unglück nennen oder einen Schicksalsschlag. Der Vergleich zu anderen, die so oder so tatsächlich oder vermeintlich nicht getroffen oder betroffen sind, bringt die konsequente Frage auf den Tisch: Warum nicht der – warum nicht die – warum gerade ich? Es ist eine menschliche Urfrage, eine, die wir alle kennen im Angesicht der unendlichen Vielfalt selbsterfahrenen Leidens. Es gibt keine Begründung, keine plausible Antwort auf die, im Vergleich zu anderen offensichtliche Ungerechtigkeit. "Warum gerade ich?“ kann schnell und nachhaltig zur Verzweiflungsfrage werden.

Erika Schuchardt hat diese Frage ungeschönt und mit ihrer ganzen lebensbedrohenden Wucht aufgegriffen. Sie ist ihr im wahrsten Sinne des Wortes nachgegangen, in dem sie den Menschen nachgegangen ist, die diese Frage stellen – stöhnend, schreiend, verzweifelt, leise resignierend. Das ist für mich die erste Stärke des Buches von Erika Schuchardt: es geht um reale Menschen mit realen Biografien, die zugleich Leidens- und Lebensbeschreibungen sind. Passionsgeschichten in erlebter Passionszeit. Erlebt auch auf dem Hintergrund eines Glaubens und einer Glaubensgemeinschaft, deren Zeichen das Kreuz ist. Lama asaftani – warum hast du mich verlassen? Da ist sie wieder, diese menschliche Urfrage in der Passionszeit. Sie bleibt unbeantwortet. Aber sie geht nicht ins Leere. Eli, eli – Lama asaftani, mein Gott, mein Gott! Es bleibt ein Gegenüber, ein Adressat auch der bitteren Klage.

Das ist für mich die zweite Stärke des Buches: zwischen Gott und den Menschen, jedem einzelnen Menschen, gibt es keine einfachen, keine billigen Antworten und Vertröstungen. Eben auch keine billige Gnade. Vielmehr behalten Aufschrei und Klage ihren Raum, wie in den vielfältigen Biografien der Bibel im Buch des Lebens auch, und bleiben in der Spannung zur Liebe Gottes – bis zum Tode, ja bis zum Tode am Kreuz. In dieser Weise ist das Buch von Erika Schuchardt zu Recht auch ein Glaubensbuch genannt worden oder – so Konrad Raiser – eine "Theologie der Lebensgeschichte“. Und es wird deutlich, dass der Umgang mit dem Leiden, wie mit dem Glauben selbst kein passives über-sich-ergehen-lassen ist, sondern engagierte, oft mühselige quälende und harte Arbeit. Die als eine Spirale des Fortschreiens im Ringen mit dem Leiden dargestellten "Arbeitsstationen und Erlebnisstadien“ zeigen das Ausmaß des Abverlangten: Ungewissheit, Gewissheit, Aggression, Verhandlung, Depression, Annahme, Aktivität, Solidarität – Stationen auf dem Weg zur sozialen Integration.

"Leben lernen in der Krise“, so der Untertitel des Buches, hört sich demgegenüber allzu sehr wie eine pädagogische Anweisung an. Vielmehr – so hab ich es gelesen – werden, wenn Hoffnung wachsen soll, Leiden und Leben, Nähe und Ferne Gottes im Kreuz Christi neu begriffen und beieinander gehalten. Ich mag den englischen Untertitel: Guidance and Hope for those who suffer – Wegweisung und Hoffnung für die, die Leid tragen.

Eine dritte Stärke des Buches liegt in der Einbeziehung derer, die zu Begleiterinnen und Begleitern von Menschen in Schmerz und Leid werden. Wer Erika Schuchardt ein wenig kennt, spürt gerade hier ihre unmittelbare eigene Erfahrung. Wichtig ist der aus solcher Erfahrung erwachsene Hinweis darauf, dass Begleitung hilfreich nur möglich ist, wenn die gleichen "Arbeitsphasen“ ohne jede eigene Überlegenheit mit dem Leidenden mitgegangen werden und so das gemeinsame Ziel auch gemeinsam im Blick bleibt, nämlich die soziale Integration auf allen Ebenen. Das trifft natürlich auch den Seelsorger in mir selbst. Ich habe selber die von Erika Schuchardt dargestellte Rollenbindung im kirchlichen Amt nachempfinden können, die nicht selten zu einem Trostwort zu viel als zu einem schweigenden Teilen der Hilflosigkeit führt. Nicht für sondern mit dem Leidtragenden kann der gemeinsame Weg gelingen. Heilsame, wichtige Erkenntnisse, sowie einfühlsame und deshalb auch anzunehmende Kritik an der kirchlich-institutionellen Seelsorgepraxis, die allzu oft ins Leere läuft.

Ein Letztes soll noch besonders hervorgehoben werden: eine gegliederte Bibliographie der über 2.000 Lebensgeschichten von 1900 bis heute; und ein alphabetisches Autorenverzeichnis dazu. Es ist also auch ein Lernbuch und ein Handbuch zum praktischen Nachvollzug wie ebenso zu einer wissenschaftlichen Erarbeitung.

Summa: Vor uns liegt ein Lebensbuch und ein Glaubensbuch, ein Lehrbuch und ein Lernbuch, vor allem anderen aber ein Hoffnungsbuch. Ungeachtet des hohen wissenschaftlichen Anspruchs ist es ein Buch, das nur aus dem Engagement des Herzens heraus so entstehen und so rund um die Welt Zustimmung finden konnte. Gut, dass es uns noch einmal wieder in einer überarbeiteten nunmehr 11. Neufassung auf den Tisch gelegt wird. Danke dafür, Erika Schuchardt!