Rezensionen - Warum gerade ich...?

hr

Meinhardt Schmidt-Degenhardt, Redaktionsleiter 'Gesellschaft und Kirche’, Hessischer Rundfunk (HR), Mainz
In: Sendereihe "Die Alternative - Kultur am Vormittag", Hessischer Rundfunk, Frankfurt am Main, 09.09.1981

... Erika Schuchardts Buch enthält Erfahrungen, die mich haben nachdenklich werden lassen über meine, unsere scheinbare Gesundheit. Mit der sogenannten 'Behinderung’ leben ... so zeigen die Berichte dieses Buches, ist ein langer Prozess des Lernens, in dem Menschen die Kraft finden, anders zu sein, als heutige gesellschaftliche Ziele es vorschreiben ...

Rezension: Gott kann nichts für sein '...' Bodenpersonal, Menschen wie Du und ich

Etwas hat mich gleich auf der ersten Seite dieses Buches nachdenklich werden lassen: da werden die Nicht-Behinderten als die "Gesunden" -in Anführungszeichen - bezeichnet!, Gesund in Anführungszeichen - heißt dies etwa, wir Nicht-Behinderten sind gar nicht gesund, sind gar nicht das Maß aller Dinge, was Gesundheit betrifft?

Warum sollten wir nicht gesund sein, - wir, bei denen doch alles mehr oder weniger glatt verläuft - die wir kaum depressive Anfälle, keine Körperbehinderung, keine chronische, lebenseinschränkende Krankheit haben? Wir funktionieren doch. Funktionieren, was die in uns gesetzten Erwartungen betrifft, - am Arbeitsplatz, im Privatleben, in unserer Gesellschaft. Und wehe, wir funktionieren irgendwann einmal nicht mehr so wie erwartet, - vielleicht, weil ein Erlebnis, eine einschneidende Erfahrung uns depressiv werden lässt. Dann kann auch uns der Stempel der Behinderung prägen: 'Seelisch gestört', 'depressiv veranlagt'. Die Grenze ist fließend, - die Grenze zwischen 'gesund' und 'krank', zwischen 'behindert' und 'nichtbehindert'. Und vielleicht ist es auch dieser Umstand, der uns allzugern gegenüber den sogenannten ,Behinderten', den 'Nicht-Gesunden' (in Anführungszeichen) auf Distanz gehen läßt. "Warum gerade ich" - so der Titel des Buches von Erika Schuchardt. "Warum gerade ich", das ist die Frage, die sich die Betroffenen, die Behinderten stellen. "Warum gerade ich nicht?" - das ist die Frage, die sich die sogenannten Gesunden viel zu selten stellen - Der Grund: die Angst, auch wir könnten eines •Tages zu den anderen gehören, - durch einen Unfall, durch Krankheit ,durch Gewalt oder einfach durch das, was man Schicksal nennt.

Der Stuttgarter Pfarrer Jörg Zink schrieb einmal: "Es ist eine Tatsache. In uns Gesunden rührt sich die Angst. Wir könnten ja, so ahnen wir, auch wie 'sie' unsere Gesundheit verlieren, unseren aufrechten Gang, unsere Sicherheit und Leistungskraft, unsere Freiheit und am Ende unsere Selbstachtung. Und da rührt sich eine Urangst. Damit aber schiebt sich zwischen Gesunde und Behinderte ein ganzes Gebirge von Unmenschlichkeit ein".

Dieses Gebirge von Unmenschlichkeit, wie Jörg Zink es nennt, das seine Wurzel tief in unserer Urangst hat, dieses Gebirge trennt auch in den Kirchengemeinden, die sich am Evangelium Christi orientieren, die Gesunden von den Behinderten. Die Frage "Warum gerade ich?", die die Betroffenen, die Behinderten; immer wieder an ihre Umwelt stellen, wird auch in den Kirchengemeinden nicht ernsthaft aufgenommen. Und wenn, dann nur aus Distanz des .Helfers und Beraters, der aus Angst vor eigener Verunsicherung keine wirkliche Nähe, keine wirkliche Hinterfragung zuläßt. Betroffene, sprich Behinderte, so zeigt das Buch von Erika Schuchardt, fühlen sich in den Kirchengemeinden meist als Objekt in die Passivität gedrückt, aber nur selten als Subjekte und mitbeteiligte Gemeindeglieder behandelt. "Die Kirche tut zwar etwas für uns; aber selten mit uns!" - so eine körperbehinderte Frau über ihre Erfahrungen mit Kirche. Die Nicht-Gesunden sind, provozierend gesagt, nicht selten willkommene Objekte, um mit dem Mäntelchen christlicher Barmherzigkeit umhängte, diakonische. Gelüste zu befriedigen- Oder anders herum formuliert: Man .entwickelt zahlreiche Taktiken, um sich der Begegnung mit dem Nicht-Gesunden zu entziehen, ihn nicht partnerschaftlich zu behandeln. Was tut man nicht alles, um sich nicht von ihm hinterfragen zu lassen, was die eigene scheinbare körperliche und vor allem seelische Gesundheit betrifft?

Erika Schuchardt hat in ihrem Buch "Warum gerade ich?" Erfahrungen von über 150 Behinderten und deren Angehörigen mit Kirche und Glauben zusammengestellt. Es sind allesamt Erfahrungen, die mich haben nachdenklich werden lassen über meine, unsere scheinbare Gesundheit. Mit der sogenannten ,Behinderung' leben, so zeigen die Berichte dieses Buches, ist ein langer Prozeß des Lernens, in dem Menschen die Kraft finden, anders zu sein, als heutige gesellschaftliche Ziele es vorschreiben.